Märkische Oderzeitung (MOZ) Sonnabend/Sonntag, 20./21. August 2016 Journal

Der Oberflächenforscher

Karsten Kelsch tupft, kratzt, reißt und schichtet bisweilen raumgreifende Papierarbeiten. Mit ihnen ist er immer wieder auch beim Brandenburgischen Kunstpreis vertreten / Von Thomas Joerdens

Eines Tages gegen Ende der 1990er-Jahre stellte sich Karsten Kelsch die entscheidende Frage: „Wie soll es weitergehen?“-. Die Antwort war längst klar, aber der Weg nicht. Deshalb trat sich der damalige Mittdreißiger quasi selbst in den Hintern, als er im Selbstgespräch entschied: „Wenn du Kunst machen willst, dann konsequent.“ Daraufhin machte Kelsch endgültig Schluss mit den öden Brotjobs und den ebenso unbefriedigenden Galerie-Café-Ausstellungen, auf die es selten eine Resonanz gegeben hatte. Stattdessen reiste der malende Autodidakt 1997 nach Bratislava und studierte an der „Academy of Fine Arts“ Malerei. In Berlin absolvierte der Sachse aus Hoyerswerda nach der Jahrtausendwende Ausbildungen in den Bereichen Multimedia-Design und Druckgrafik. Parallel entwickelte er seine Kunst weiter und fand seinen Stil.

Kelsch tupft, kratzt, reißt und schichtet bisweilen raumgreifende Papierarbeiten. Diese können komplette Wände bedecken und rollen unter Umständen in den jeweiligen Ausstellungsraum hinein.

Für den Brandenburgischen Kunstpreis der Märkischen Oderzeitung bewarb sich Kelsch diesmal mit seiner Arbeit „Der Absturz des Ikarus“. Und die Jury hat den Künstler aus Panketal (Barnim) bereits zum achten Mal für die Ausstellung im Schloss Neuhardenberg ausgewählt. Zehn Mal habe er sich bislang beworben und freue sich immer wieder, wenn er in die Endrunde komme. „Das ist eine Würdigung der Kunst und außerdem eine schöne Ausstellung“, sagt der 54-Jährige, der sein Atelier unterm Dach seines Wohnhauses eingerichtet hat.

Dort hängen, liegen und lehnen einige der Schwarz-Weiß-Arbeiten in der Art des Ikarus-Werkes. Die schwarzen Tupfer, Striche, Flächen wirken räumlich. Man denkt an Landschaften mit Wäldern, Bergen, Flüssen, Straßen, Häuserhaufen. Nur selten tauchen auf den manchmal meterlangen Papierbahnen Farbe beziehungsweise etwas Gegenständliches auf. Zum Beispiel ein roter Trecker oder blaue Flecken, die Seen sein könnten. Auf dem gewachsten Papier hat Kelsch die Farbe mit einer Kaltnadel teilweise wieder weggekratzt. Der Clou sind die gerissenen, gezackten Papierstreifen, die der Künstler am oberen oder unteren Rand übereinanderlegt. Dadurch entstehen terrassenartige und räumliche Effekte. Man assoziiert Bodenschichten, Steinbrüche, Tagebau. Aber auch Umweltzerstörung und Klimawandel.

Für Kelsch spielen Bodenerosionen, Abholzungen und ähnliche Veränderungen der Landschaft eine große Rolle. Damit ist der Oberlausitzer quasi aufgewachsen, und diese Eindrücke haben ihn und auch Teile seines Werkes geprägt. Kelsch hatte nach der Schule eine Lehre im Bergbau gemacht und jahrelang im Tagebau gearbeitet, bevor ihn Mitte der 80er- Jahre Ost-Berlin samt der Kulturszene nach Prenzlauer Berg zog. Schon als Kind hatte er gezeichnet und mit gleichgesinnten Freunden eine Kunst-Gruppe gegründet. Man zeigte sich gegenseitig die Arbeiten und schmorte im eigenen Saft. Impulse und Anregungen von außen, etwa durch Ausstellungen und Kunstkataloge, waren Mangelware. Und an eigene Ausstellungen oder ein Kunststudium war überhaupt nicht zu denken. Daran änderte sich auch in Berlin wenig.

Als eine Inspirationsquelle entdeckte Kelsch später Max Beckmann. Aber im Grunde ist er sich über die Jahre treu geblieben und schöpft vor allem aus sich selbst. Bis heute ist Kelsch ein experimentierfreudiger Künstler, der sich von spontanen Einfällen und Zufällen leiten lässt. So entstand auch die Reißtechnik. Als eine zerrissene Zeichnung und ein schwarzer Papierbogen übereinander lagen, bemerkte Kelsch „eine ungewollte, aber interessante Fortsetzung des Bildes durch eine zusätzliche Dimension“. Das war vor gut zehn Jahren. Der Künstler war gerade dabei, seine eigene Bildsprache zu entwickeln, indem er Figuren zusehends auflöste und die Farbe verbannte. Er wollte sehen, was auf dem Papier passieren würde in Sachen Weite, Tiefe, Perspektive.

Das Reißen war ein nächster Schritt, um die Bilder weiterzuentwickeln. Indes ist Reißen nicht gleich Reißen. „Jeder Riss muss sitzen. Du hast nur eine Chance“, sagt Kelsch. An seiner Technik feilte er etwa ein Jahr. Mit Endlospapierrollen eroberte sich der Künstler den Fußboden als eine zusätzliche Ebene. Vor einigen Jahren hat Kelsch für seine Landschaften Multimedia-Installationen mit Sound und Licht-Effekten gebaut, um Umweltzerstörungen auch mit anderen Sinnen erfahrbar zu machen. Dabei sucht er nach immer weiteren Ausdrucksmöglichkeiten in Schwarz-Weiß. Seit dem vergangenen Jahr kombiniert Kelsch diese Arbeiten mit farbigen, abstrakten Acryl-Gemälden. Die Vielfalt der Risskanten verarbeitet der Künstler auch zu Objekten. In Holzrahmen legt er mehr als 1000 vermeintlich glatte Papierstreifen übereinander, deren Struktur aus der Nähe einem flauschigen Teppich ähnelt. Unterschiedliche Weiß- und Schwarz-Töne lockern die Oberfläche auf und lassen sie wellenartig erscheinen; andere Objekte wirken durch einen eingearbeiteten zackigen schwarzen Streifen wie durchgetrennt. Je nach Lichteinfall verändern sich die Strukturen der schmalen Stapel noch einmal.

Der Oberflächenforscher, Grafiker, Maler und Objekt- Künstler geht seinen Weg konsequent weiter, wie er ihn Ende der 90er-Jahre beschlossen hat. Und er stellt seine Arbeiten seit etwa 13 Jahren aus. In Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, in Israel...

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